Ich höre sie noch immer: die Muschel, die geheimnisvoll an meinem Rucksack auf den Pilgerwegen nach Santiago und Rom bei jedem Schritt klapperte. Sie macht bis heute eine Musik, die aus der Tiefe kommt und von unvergesslichen Erinnerungen spricht. Täglich die Sehnsucht spüren, dass sich etwas im Leben verändern muss. Täglich neu, gesegnet und behütet, aufbrechen ins Unbekannte und sich gehend innerlich aufbrechen lassen. Schritt für Schritt dann einem Weg folgen, der sich immer neu, vertrauenswürdig unter die Füße spannt, der die unmöglichen Begegnungen ermöglicht mit sich und seiner Lebensgeschichte, mit Pilgern, die allesamt Suchende sind, mit der Natur und den heiligen Räumen der Kraft, mit dem Göttlichen in uns, auch mit den Wunden, die sich beim Gehen provozierend bilden. Mit einem Provisorium auskommen - wo erleben wir das schon in den Bequemlichkeiten der Konsumgesellschaft?
Und dann das Teilen, die Blicke, den Gruß, das Brot und den Wein, die Erfahrungen und Schicksale, die sich wie Lieder anhören. Schließlich das Ankommen am Ziel, ohne das der Weg belanglos sein könnte. Der Blick auf die einladend aufgebrochenen Fassaden der Dome von Sankt Peter und Sankt Jakobus. Sich dann in Stille, im Schweigen, Knien und Beten wie auf einem Stecknadelkopf der Erinnerungen niederlassen, auf dem alles da ist, kompakt, sprachlos, verheißungsvoll, dass es nach dem Lebensweg eine ewige Heimat gibt.
Jetzt hängt die Muschel im Flur meines Hauses als geduldige Reliquie eines Weges, die in jedem Augenblick von sich erzählt, aber nicht nur von sich: Ich weiß jetzt, was ein Weg ist. Ich weiß jetzt, was Jesus meinen könnte, wenn er davon spricht, dass er der „Weg“ ist. Ich weiß, dass dem Außen ein Innen entspricht. Ich weiß, was Inspiration bedeutet, was Erfahrungswissen und was Offenbarungswissen.
Hilde Domin, eine von ihrem Lebensweg zutiefst geprägte Dichterin, schreibt über das Gehen und Erinnern:
„Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
Als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft, und wir ständen fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt,
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt...“
Peter Spielmann
Pastorale Mitarbeit in Obernau