Evangelium
In jener Zeit sagten viele der Jünger Jesu, die ihm zuhörten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören? Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß? Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn aufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war?
Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben. Aber es gibt unter euch einige, die nicht glauben. Jesus wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten, und wer ihn ausliefern würde. Und er sagte: Deshalb habe ich zu euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist.
Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher. Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen? Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.
Johannes 6,60–69
Fühlen Sie sich angesprochen? Jesus sagt, wer er ist. Und viele Leute wenden sich ab und gehen. Die Situation, die das Johannesevangelium beschreibt, hat zumindest ein bisschen Ähnlichkeit mit der Situation der Kirche heute. Fast 1,3 Millionen Katholiken sind in den vergangenen drei Jahren in Deutschland aus der Kirche ausgetreten. „Wollt auch ihr gehen?“
Dass wir das tun könnten, also die Wahl haben zwischen Gehen und Bleiben – ist nicht selbstverständlich. In Zeiten der Volkskirche war es für die meisten Mitglieder ihrer Kirche de facto unmöglich wegzugehen. Wer den Glauben verlor, behielt das für sich. Erst seit 1847 sind in Deutschland (Preußen) überhaupt Kirchenaustritte möglich. Die preußische Regierung erlaubte das widerwillig – und im Blick war dabei nicht der Glaubensabfall, sondern der Übertritt in eine staatlich nicht genehmigte christliche Gruppierung.
Ansonsten war eine persönliche Wahl der Religionszugehörigkeit nicht vorgesehen. Es galt: Für seine Kirche entscheidet man sich nicht, man wird hineingeboren. Die Kinder lernen nach und nach die Werte und Glaubenswahrheiten ihrer Gemeinschaft. Sie werden vertraut mit den christlichen Symbolen, den biblischen Geschichten. Sie gewöhnen sich an Riten und Feste. Und als Erwachsene praktizieren sie ihre Religion so, wie es schon die Väter und Mütter, die Großväter und Großmütter taten, so wie es die Nachbarn tun, das ganze Dorf und das ganze Land.
Diese Welt gibt es nicht mehr. Wer heute Christ wird, wer Christ bleibt, macht nicht das, was alle tun. Er glaubt nicht das, was alle glauben. Insofern – und das ist eigentlich das Spannende – ist die Situation ähnlich wie die der Jünger in Kafarnaum.
Es geht im Johannesevangelium natürlich nicht um Kirchenaustritte – es geht um das Bekenntnis zu Christus. In der erzählten Geschichte stehen die Anhänger Jesu vor einem Scheideweg. Vorausgegangen war die Brotvermehrung in Tiberias am See Gennesaret. Nach diesem aufsehenerregenden Ereignis kommen die Neugierigen bootweise über den See gefahren, um neue Wunder zu sehen. Es geschieht aber nichts. Stattdessen hält Jesus eine lange Rede, die heute als „Brotrede“ bezeichnet wird.
Die Schwelle zum Bekenntnis ist hoch
Diese Rede enthält provozierende Worte: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch. Ich gebe es hin für das Leben der Welt.“ (Johannes 6,51) Und: „Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch.“ (6,54)
Die Brotrede hat im Johannesevangelium eine wichtige Funktion, denn das Abendmahl fehlt hier. Das Thema der Eucharistie setzt Johannes in einer mittleren Phase des Wirkens Jesu an – und macht dieses Thema zu einem Prüfstein der Nachfolge. Dass viele Zuhörer verstört reagieren, war zu erwarten. Nicht alle überspringen die Schwelle zwischen dem Betrachten einer Sensation und dem kompletten Christusbekenntnis.
Auf die Frage „Wollt auch ihr gehen?“ antwortet Simon Petrus bekanntlich mit zwei Sätzen. Beide passen nicht recht zueinander. Der zweite Satz „Du hast Worte ewigen Lebens“ klingt wie auswendig gelernt, wie eine Formel und Zusammenfassung der Jesus-Predigt. Der erste Satz, die Frage „Herr, zum wem sollen wir gehen?“ ist ganz anders. Man kann sich vorstellen, dass Petrus tatsächlich so geantwortet hat. Aus dieser Frage spricht die Ratlosigkeit, die auch den engsten Jesuskreis ergriffen haben muss angesichts von Aussagen, die ja erst viel später formuliert und verstanden werden konnten.
Interessant ist: In diesem kurzen Wortwechsel ist nicht etwa von „glauben“ und „nicht glauben“ die Rede. Das entscheidende Wort lautet „gehen“. Kein anderer Religionsstifter geht so viel wie Jesus, von keinem anderen wird so oft gesagt, dass er von einem Ort zum anderen geht. Keinem anderen ist das Gehen so wichtig. Die Jünger Jesu sind nicht eine Gruppe von Überzeugten und nicht die Anhänger einer Idee. Es sind diejenigen, die mit Jesus gehen.
Kein System, sondern ein Weg
Das gilt auch heute, 2000 Jahre später. Kardinal Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., hat das einmal so ausgedrückt: „Der christliche Glaube ist kein System. Er kann nicht wie ein geschlossenes Denkgebäude dargestellt werden. Er ist ein Weg und dem Weg ist es eigen, dass er nur durch das Eintreten in ihn, das Gehen darauf erkennbar wird.“
Sollen auch wir weggehen? Oder sollen wir weitergehen? Wohin sollen wir gehen? Mit wem sollen wir gehen, wenn nicht mit diesem Jesus von Nazaret, dem Sohn des Vaters? Viele von denen, die einen langen Weg mit Jesus hinter sich haben, werden ähnlich antworten wie Petrus: Wir sind jetzt schon so lange mit Jesus gegangen! Wir haben so viel erlebt! Manchmal ist dieser Weg ermüdend und ernüchternd. Aber wir werden bis zum Ende weitergehen mit diesem Mann, auf den wir gesetzt haben und dem wir vertrauen.
Wer dieser Jesus ist, das wissen wir – bei aller theologischen Kenntnis – nicht genau. Das werden wir erst ganz am Ende des Weges sehen.
Andreas Hüser