Evangelium
Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.
In jener Zeit kehrte Jesus, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sichin der ganzen Gegend. Er lehrte in den Synagogen und wurde von allen gepriesen. So kam er auch nach Nazaret, wo eraufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge.
Als er aufstand, um vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er öffnete sie und fand die Stelle,wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ichdie Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.
Lukasevangelium 1,1–4;4,14–21
Der Anfang des Evangeliums von diesem Sonntag sind die ersten vier Verse des gesamten Lukasevangeliums. Die wenigen Sätze wirken fast wie ein Begleitbrief, in dem Lukas dem „hochverehrten Theophilus“ erklärt, warum er ihm dieses Buch schickt. Mag sein, dass es wirklich so war und dass das eigentliche Werk mit der Verheißung der Geburt von Johannes dem Täufer (1,5–25) begann.
Mag aber auch sein, dass diese Rechtfertigung – denn so klingt die Einleitung – nötig war und deshalb von Anfang an als Vorwort über dem Evangelium stand. „Schon viele“ haben sich an diesem Genre versucht, sagt Lukas. Aber sie haben es offenbar nicht geschafft, alle „von der Zuverlässigkeit der Lehre“ zu überzeugen – auch Theophilus nicht. Deshalb sei, meint Lukas, ein neuer Aufschlag nötig: „der Reihe nach“ und nach sorgfältiger Prüfung der Sachlage.
Kann er das? Was weiß man über diesen Lukas, der außer dem Evangelium auch die Apostelgeschichte verfasst hat? Zusammenfassend gesagt: nicht viel!
Die Kirchenväter der Antike nahmen an, dass der biblische Schriftsteller identisch ist mit dem Lukas, der als Begleiter und Mitarbeiter des Paulus in drei Briefen erwähnt wird, davon einmal als „Lukas, der geliebte Arzt“ (Kolosser 4,14). Obwohl sich dies in vielen Köpfen festgesetzt hat: Heute gilt es als unwahrscheinlich. Zu wenig ist das Lukasevangelium von der paulinischen Theologie geprägt, zu groß sind die Unterschiede der Abläufe in Apostelgeschichte und Paulusbriefen und: Lukas nennt Paulus an keiner Stelle „Apostel“, was für das Selbstverständnis des Paulus in seinen Briefen zentral ist.
Lange glaubte man auch, dass Lukas Heidenchrist war, weil er die geografischen und kulturellen Verhältnisse in Palästina oft ungenau oder gar falsch beschreibt und jüdische Traditionen wie die rituelle Reinheit teilweise übergeht. Andererseits hat er hervorragende Kenntnis der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, sodass die Frage „Jude oder Heide“ heute unterschiedlich bewertet wird.
Wie Kraut und Rüben
Sicher ist, dass Lukas in einem hervorragenden, geradezu klassischen Griechisch schrieb – und dass er nicht aus der Heimat Jesu stammte. Wahrscheinlich lebte er in Griechenland oder Kleinasien und hatte – unabhängig von seiner eigenen Herkunft – heidenchristliche Gemeinden im Blick.
Alles sorgfältig und der Reihe nach aufschreiben wollte Lukas also. Denn bislang gab es verschiedene Quellen, die in den Gemeinden kursierten. Da gab es das Markus-evangelium, das Lukas ganz sicher kannte. Es gab eine (möglicherweise schriftliche) Quelle ausschließlich mit Worten Jesu – Predigten und Gleichnisse vor allem; Fachleute nennen sie heute „Q“, gefunden wurde sie nie. Und es gab jede Menge Geschichten, die über Jesus erzählt wurden.
Wahrscheinlich empfand Lukas das alles ein bisschen wie Kraut und Rüben. Was stimmt und was stimmt nicht? Ist das alles glaubwürdig? Der hochverehrte Theophilus scheint Zweifel gehabt zu haben.
Wir befinden uns inzwischen rund 50 Jahre nach der Kreuzigung Jesu. Augenzeugen sterben aus, da gab es ein großes Bedürfnis nach „Zuverlässigkeit der Lehre“, nach Prüfung und Struktur. Das alles wollte Lukas liefern, er wollte es sozusagen auf die Reihe kriegen, das ganze Durcheinander der Schriften und Erzählungen.
Und so setzte Lukas sich hin und schrieb alles zusammen: Markus – rund 40 Prozent des Textes stimmen mit ihm überein; Teile aus der Spruchquelle Q – knapp ein Viertel des Evangeliums stammt daher. Der Rest, etwa 35 Prozent, kommt von dem, was Lukas noch so gehört oder gelesen hat, man nennt es das „Lukanische Sondergut“: Geschichten, die kein anderer Evangelist kennt. Alles rund um die Geburt Jesu zum Beispiel, der Zwölfjährige im Tempel, aber etwa auch die Erzählungen vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn und barmherzigen Vater und von den Emmausjüngern.
Wenn Lukas in seinem Vorwort schrieb, dass er allem sorgfältig nachgegangen ist, heißt das allerdings nicht, dass er den Anspruch hatte, einen historischen Tatsachenbericht zu schreiben. Er komponierte seine verschiedenen Vorlagen zu einem neuen Gesamtkunstwerk und nahm sich die Freiheit, die Teile so zusammenzufügen, dass sie zu seiner theologischen Erzählabsicht passen.
Evangelist der Armen und Frauen
Dazu gehört eine besondere Betonung der christlichen Verantwortung für die Armen. Deshalb ist bei Lukas – anders als in allen anderen Evangelien – die allererste öffentliche Rede Jesu seine Predigt in der Sy-nagoge von Nazaret; sie ist der zweite Teil des zusammengestückelten Evangeliums von diesem Sonntag. „Der Herr hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe“, zitiert Jesus darin den Propheten Jesaja. Und: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ Eine programmatische Rede würde man so etwas heute nennen.
Lukas warnte zudem so scharf wie kein anderer vor den Gefahren des Reichtums, vielleicht weil in den Gemeinden, für die er schrieb, die Schere zwischen Arm und Reich ein Problem war. So zitiert er nicht nur die bekannten Seligpreisungen der Armen; er fügt als einziger auch Wehrufe an: „Weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon empfangen.“ (6,24)
Wichtig ist außerdem: Kein anderer Evangelist ist so interessiert an Frauenüberlieferungen wie Lukas. Als einziger erzählt er ausdrücklich von Jüngerinnen: „Die Zwölf begleiteten ihn, außerdem einige Frauen: Maria Magdalena, Johanna, die Frau des Chuzas, Susanna und viele andere. Sie alle unterstützten Jesus und die Jünger mit dem, was sie besaßen“ (8,1–3) – wobei bei letzterer Bemerkung nicht nur an Geld zu denken ist, sondern auch an Wissen und Begabungen. Ohne Lukas wüssten wir nichts von der Mutter des Jünglings von Naïn (7,11–17), von der Sünderin im Haus des Simon (7,36–50) oder von Maria und Marta (10,38–42). Und viel weniger von Maria, der Mutter Jesu. Insgesamt gesehen also ein interessantes Projekt, das des Lukas.
Susanne Haverkamp