Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Gnade Gottes ist kein Abstraktum, sondern ein konkreter Mensch
„Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten.“ Mit diesem Satz aus dem Titusbrief, der zweiten Lesung, beschreibt der Apostel Paulus das Geheimnis von Weihnachten. Was so abstrakt klingt, „die Gnade Gottes“, ist in Wirklichkeit ganz konkret. Denn die Gnade Gottes ist ein Mensch, ist DER Mensch Jesus Christus. In ihm hat sich Gott mit uns Menschen untrennbar verbunden. In ihm ist unsere menschliche Natur mit Gott geeint. Was kein Mensch jemals aus eigener Kraft oder eigener Anstrengung erreichen könnte, das schenkt uns Gott aus Liebe: Er gibt uns Anteil an seinem göttlichen Leben.
Die Gnade erhebt uns Menschen zu Gott
Aus Gnade, weil sich das keiner verdienen kann und weil wir es auch nicht verdient haben in all unserer Fehlbarkeit. Nein, Gott lässt Gnade walten. Aber es ist keine herablassende Gnade, die mitleidig von oben auf uns Menschlein herabschaut und uns klein macht oder uns unsere Bedeutungslosigkeit vor Augen führt, sondern umgekehrt. Es ist eine Gnade, die uns Menschen groß macht, uns zu Gott erhöht, uns über unsere menschlichen Möglichkeiten hinaus mit Gott verbindet. Uns Menschen heißt alle Menschen. Denn die Menschwerdung Gottes schließt niemanden aus.
Gott glaubt in seiner Gnade an den Menschen auch im Dunkel der Welt
In der längsten Nacht des Jahres ist uns Gottes Gnade erschienen. Im Dunkel dieser Welt ist sie erschienen, in dem viele im Blick auf die Nachrichten der vergangenen Wochen, Monate und Jahre den Glauben an die Menschheit verloren haben. Weihnachten sagt: Was auch immer Menschen tun, Gott glaubt an den Menschen. In Jesus Christus zeigt er uns, dass der Mensch über sich hinauswachsen kann, dass er mehr sein kann.
Seine liebevolle Zuwendung will alle zu Kindern Gottes machen
Im Stern von Betlehem leuchtet uns auf, dass der Herr der Welt sich uns liebevoll zuwendet. Er richtet sein Reich nicht auf mit Gewalt, mit dem Soldatenstiefel und dem blutgetränkten Mantel, wie es so eindrücklich in der Lesung hieß. Er kommt nicht mit dem Stock des Treibers und dem Joch, das er anderen auf die Schulter legt. Nein, in dieser Nacht zeigt er uns einen anderen Weg des Miteinander auf. Er kommt als wehrloses Kind. Er kommt ohne Waffen, weil sein Halt der himmlische Vater selbst ist. In Christus will er unser aller Vater werden, uns zu seinen Kindern machen. Ja, er will, dass in Christus alle Menschen gerettet werden.
Was uns anzieht, hat auch die Kraft, uns zu erziehen
„Die Gnade erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit loszusagen“, schreibt der Apostel Paulus weiter. Wir dürfen uns von der Gottlosigkeit los-sagen, weil Christus die Zusage Gottes an uns Menschen ist. Das Licht dieser Nacht zieht uns an. Es will uns neugierig machen auf diese andere Weise, als Mensch zu leben. Was die Kraft hat, uns anzuziehen, hat auch die Macht, uns zu erziehen, uns umzuformen und zu neuen Menschen zu machen. Das geht nicht über Nacht, sondern braucht Zeit und Geduld. Drei Dinge legt uns der Apostel deshalb heute Nacht ans Herz. Wir sollen „besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben“.
…besonnen – im Sinn von zur Besinnung kommen
Mit „besonnen“ meint der Apostel nicht eine diffuse Besinnlichkeit oder weihnachtliche Stimmung, die uns süßlich einhüllt. Besonnen sind für ihn vielmehr die, die durch das Licht dieser Nacht zur Besinnung gekommen sind, und zwar in einem dreifachen Sinn.
Besonnen sind zuerst die, denen das Licht dieser Nacht überhaupt erst den Sinn geschärft hat für das Ausmaß der Dunkelheit, an das wir uns alle gewöhnt hatten.
Besonnen sind zweitens die, die voller Dankbarkeit an der Krippe stehen, weil sie spüren, dass ihr Sinn nicht hinreicht, das Wunder zu ermessen, dass Gott uns heute Nacht so nahe gekommen ist in diesem göttlichen Kind.
Besonnen sind drittens die, die nachdenklich geworden sind. Die darüber nachsinnen, was dieses Wunder für uns, für mich persönlich bedeutet. Die ernsthaft fragen, wie ich mein Leben ändern müsste, wenn das wirklich wahr ist, was ich, was wir alle heute Nacht in der Krippe sehen durften.
Weihnachten bringt uns zur Besinnung. Es will eine Welt, die wie von Sinnen erscheint, wieder im Sinne Gottes zur Umkehr rufen.
…gerecht – im Sinne von Maß nehmen an Gottes Gerechtigkeit
Deshalb auch fährt der Apostel fort mit der Mahnung, wir sollen gerecht leben. Mit „gerecht“ meint der Apostel diejenigen, die an der Gerechtigkeit Gottes Maß nehmen. Die das Kind in der Krippe zum Maßstab ihres Handelns machen.
Heute Nacht aber zeigt sich die größere Gerechtigkeit Gottes darin, dass er nicht kommt, um zu strafen, sondern um zu retten. Deshalb sind die Gerechten die, die auf Frieden sinnen und sich für Versöhnung einsetzen – im privaten Umfeld genauso wie in der Gesellschaft und angesichts der weltweiten Konflikte, in denen so sinnlos unschuldiges Blut vergossen wird.
Heute Nacht zeigt sich die größere Gerechtigkeit Gottes darin, dass er den ersten Schritt auf uns zugeht. Er handelt zuerst, weil er an die Erneuerung der Welt glaubt. Die Gerechten sind also die, die im Blick auf den weihnachtlichen Vertrauensvorschuss den ersten Schritt tun und nicht abwarten, weil sie mit Gott auf Veränderung vertrauen.
Heute Nacht zeigt sich die größere Gerechtigkeit Gottes darin, dass er uns Menschen nicht beschämt. Gerecht sind deshalb die, die andere nicht beschämen und vorführen. Die sich vielmehr dafür einsetzen, die Würde des Menschen zu wahren, und gerade die Verletzlichen und Schwachen in besonderer Weise schützen. Dazu gehören die Menschen auf der Flucht genauso wie die Menschen am Rand der Gesellschaft. Der Einsatz für Gerechtigkeit fordert aber auch, die Würde des ungeborenen Lebens zu schützen und die Würde der kranken und alten Menschen, denen wir unsere Solidarität nicht verweigern dürfen.
Heute Nacht zeigt sich die größere Gerechtigkeit Gottes darin, dass er sich nicht von der Gleichgültigkeit lähmen lässt, sondern handelt, auch wenn uns das Kind in der Krippe so unscheinbar vorkommt und so hilflos. Gott lädt uns heute Nacht ein, einfach anzufangen, auch klein anzufangen. Denn ein erster Schritt in die richtige Richtung kann Großes bewirken, auch wenn er uns noch so unscheinbar und hilflos scheint.
…und fromm – im Sinne von Gott verbunden
Besonnen, gerecht und fromm sollen wir leben, sagt der Apostel. „Fromm“ meint dabei nicht frömmlerisch oder irgendwelche frommen Gefühle. Sondern fromm ist der, der sich täglich neu bemüht, das Licht dieser Nacht nicht ausgehen zu lassen in seinem Herzen. Der Fromme glaubt jeden Morgen neu an dieses Licht, das seinen Tag erhellen möchte. Er lässt es nicht ausblasen durch die Erfahrungen von Sinnlosigkeit und bösen Taten. Im Gebet an der Krippe vergewissert er sich der Neuschöpfung der Welt an Weihnachten. Das gibt ihm die Kraft, auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung zu warten und diese Hoffnung niemals aufzugeben, weil Christus unser fester Anker ist.
Ihr seid Gottes auserlesenes Volk
„Gott hat sich ein auserlesenes Volk geschaffen, das voll Eifer danach strebt, das Gute zu tun“, so schreibt der Apostel Paulus am Ende seines Nachdenkens über das Weihnachtsgeheimnis. Ja, wir sind sein auserlesenes Volk. Heute Nacht pflanzt er den Eifer in unser Herz, um das Gute zu tun. Bitten wir den Herrn, dass dieser Eifer niemals erlahme. Dazu hilft uns das neue Lied, das die Engel an Weihnachten über der Erde angestimmt haben und das ab heute nie mehr verstummen soll: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade.“ Freuen wir uns an unserem Gott, singen wir sein Lob und erweisen wir uns als Menschen seiner Gnade. Als Menschen, denen heute Nacht die Gnade Gottes erschienen ist, um alle Menschen zu retten. Amen.